Heulsuse! Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Weichei! Memme! Jammerlappen! Schreihals! Du bist ja hysterisch! Ist doch alles gut! Nun stell dich nicht so an! Der will dich nur manipulieren! Hahaha, guck mal, jetzt heult er/sie wieder, wie süß!
Jaaaa, wir kennen sie Alle! Diese Sprüche, die damit zu tun haben, dass das Weinen nicht sonderlich beliebt ist und es als „schwach“ oder „manipulierend“ abgestempelt wird.
Das Weinen hat bei uns leider keinen guten Ruf, dabei ist es genauso wichtig wie alle anderen Emotionen auch. Man weint aus Wut, Freude, Betroffenheit und Rührung, bei körperlichen und seelischem Schmerz und manchmal einfach nur, um einen Fremdkörper aus dem Auge zu bekommen.
Schreibaby?
Ich fange von vorne an: beim Baby. Einige weinen sehr, sehr viel! Das kann auch ein exzessives Schreien werden. Ist es dann ein sogenanntes „Schreibaby“??
Das gilt offiziell nur, wenn die „Dreierregel“ erfüllt wird. Diese besagt, dass das Schreien über einen Zeitraum von mindestens drei Wochen an mindestens drei Tagen pro Woche mehr als drei Stunden pro Tag auftritt.
Ich denke, es ist egal, wie lange das Baby weint, wenn es den Eltern damit nicht gut geht, besteht immer Handlungsbedarf! Und das so schnell wie möglich, denn je länger das Baby weint, desto weniger Kraft haben die Eltern.
Wieso schreit mein Baby?
Ein Baby hat viel zu verkraften! Wie schon in meinem ersten Blogbeitrag beschrieben, gibt es viele Faktoren, die ein Ankommen schwierig machen. Ein Baby kann noch nicht sprechen, es kann nur Weinen/Schreien.
Die Masse an Reizen muß erstmal verpackt (reguliert) werden und das Baby ist nicht mehr eins und komplett verbunden mit seiner Mama -das ist ganz schön hart!
Die Erlebnisse aus Schwangerschaft und Geburt können noch nicht verarbeitet sein und das Baby muss einfach eine Runde „erzählen“, um sich seinen Kummer von der Seele zu weinen. Wir Menschen haben nämlich wunderbare Regulationsmechanismen, die uns helfen, auch traumatische Situationen zu verarbeiten. Das Weinen gehört dazu!
Da hilft es wirklich am allerbesten, zuzuhören und das Baby dabei zu begleiten. Die Eltern sind sozusagen „der Fels in der Brandung“ und dafür verantwortlich, dem Kind Halt und Sicherheit zu vermitteln.
Des Weiteren weiß ein Baby noch nicht, dass wir hier vier Wände und eine Zentralheizung haben, das „Steinzeitgehirn“ meldet: „ich liege hier allein….moment mal….das geht nicht….ich werde vom Säbelzahntiger gefressen!!! Uuuuuaaaaaaahhhhhh-helft mir!!!!!!!“.“ Das Baby teilt dann mit, dass es unsere Nähe braucht und gerade Todesangst hat. Ja, richtig gelesen TODESANGST und es braucht viel Vertrauen und Sicherheit, um diese Angst zu überwinden. Schließlich ist unser Gehirn vor allem zu Beginn noch auf Steinzeitniveau (was uns Erwachsene übrigens auch noch beeinflusst!) und da war es wichtig nicht allein irgendwo liegen gelassen zu werden.
Einige Kinder brauchen länger, andere sind schneller zufrieden.
Warum fällt uns das (Begleiten des) Weinen(s) so schwer?
Weinen ist -wie gesagt- eine Emotion, die nicht sonderlich beliebt ist. Sind wir selber als Kind mit den zu Beginn genannten Sätzen aufgewachsen und wurden nicht liebevoll getröstet und begleitet, so können auch uns diese Regulationsmechanismen fehlen.
Der eigene Körper gerät dann ebenfalls in einen Alarmzustand, da er von klein auf nicht gelernt hat, damit umzugehen und die damaligen Gefühle von Ohnmacht, des „Nichtverstandenwerdens“ und „nicht gut genug seins“ (bzw. „mein Kind lehnt mich ab“) klopfen wieder an. Wir haben das Gefühl dringend etwas tun zu müssen, damit es dem Kind besser geht und das Schreien/ Weinen endlich aufhört.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen alleine Schreien/ Weinen lassen und liebevoller Begleitung!
Um das eigene Alarmsystem zu deaktiveren, sollte man sich dessen zunächst bewusst werden und einmal nachprüfen, wie es bei einem selber in der Kindheit abgelaufen ist.
Wunderbare Bücher dazu sind „Keine Angst vor Babytränen“ von Thomas Harms, „Warum Babys weinen“ von Aletha Solter oder auch für größere Kinder „Auch kleine Kinder haben großen Kummer“ von Aletha Solter. Wobei Eltern bitte beim Thema Stillen auf ihr Bauchgefühl achten und es dem Kind nicht vorenthalten sollten (das ist das einzige Manko in den Büchern von Aletha Solter und veraltet).
Denn häufig geben ehemalige „Schreibabys“ in der Autonomiephase (auch Trotzphase genannt) nochmal richtig Gas und wenn sie dann immer noch nicht „gehört“ wurden, bleibt es anstrengend und die Beziehung kann dadurch gestört sein.
Kinder leben im Hier und Jetzt. Da kommen die unterschiedlichsten Gefühle im Sekundentakt. Manchmal weint ein Kind und man denkt, es ist wegen einer „Nichtigkeit“, es wird verharmlost und man versteht das Kind nicht.
Das nennt Aletha Solter, das „zerbrochene-Keks-Syndrom“. Das könnte folgende Situation sein: das Kind möchte einen Keks, der letzte Keks in der Packung ist jedoch zerbrochen, urplötzlich gehen Geschrei und „Heulerei“ los. Da hilft es auch nichts eine neue Packung aufzumachen und die Bezugsperson fragt sich, warum das Kind so ein „Theater“ macht.
Dabei geht es gar nicht um den zerbrochenen Keks! Er ist nur der Auslöser, der das, wie ich es nenne, „Frustrationsfass“ zum Überlaufen bringt. Es ist ein Tropfen zu viel und alles, was sich angestaut hat, kommt raus. Das kann dann etwas sein, was viel früher, z.B. im Kindergarten oder in der Schule, vorgefallen ist. Spiegelt man das Kind dann mit seinem Gefühl und sagt z.B. „ich sehe du bist gerade richtig wütend/traurig“ und bietet ihm Nähe an, dann kann sich das Kind öffnen und den Regulationsmechanismus wirken lassen.
Kinder wollen gehört und gesehen werden mit all ihren Gefühlen
Das Sehen der Gefühle und Wahrnehmen des Kindes hilft ihm, die Gefühle zu regulieren und alle Erfahrungen gut zu verarbeiten. Daher ist es so ungemein wichtig, das Kind -auch, wenn es bitterlich weint oder schreit- liebevoll zu begleiten.
Jedes Unterdrücken oder Ablenken dieser Gefühle bewirkt ein Eingreifen in die natürlichen Regulationsmechanismen und kann dafür sorgen, dass das Kind z.B. vermehrt unruhig ist, schlecht schläft/isst/trinkt und es im Allgemeinen immer anstrengend mit dem Kind bleibt.
Es ist ein RIESEN Unterschied, ob man ein Kind allein weinen lässt, so wie es die heutige Erwachsenengeneration (und die Generationen davor) häufig noch erlebt hat oder wenn das Kind in seiner Not begleitet wird. Denn das gibt, auch im späteren Alter, wieder Vertrauen und Sicherheit zurück und das Gefühl „ich werde gesehen und gehört“, „ich bin wichtig und werde ernst genommen“.
Es hilft gesund aufzuwachsen, Erlebnisse gut zu verarbeiten und eine tiefe innere Sicherheit zu entwickeln.
Reflektiert euch und eure eigene Geschichte
Daher, liebe Eltern, schaut einmal, warum es euch so schwerfällt euer Kind beim Weinen wirklich liebevoll zu begleiten.
Habt ihr euch als Kind immer verstanden und gesehen gefühlt? Wie wurde mit euren Gefühlen umgegangen? Gibt es Informationen darüber, ob ihr als Säugling nah bei euren Eltern wart oder ob es eine Trennung (z.B. Säuglingszimmer nach der Geburt, eigenes Zimmer schon als Baby) gab? Habt ihr selber Schwierigkeiten mit dem Schlafen und/oder hat man euch zum Einschlafen á la „Jedes Kind kann schlafen lernen“ schreien lassen?
Könnt ihr Weinen? Was passiert dann? Zieht ihr euch zurück, weil ihr gelernt habt, es mit euch allein auszumachen? Fühlt ihr euch erleichtert, wenn ihr euch mal so richtig „ausgeweint“ habt? Schwirrt bei euch oder euren Eltern (den Großeltern des Kindes) noch der Gedanke des „Verwöhnens“ oder dass man sich einen kleinen Tyrannen, der einen manipuliert, im Kopf herum?
Das sind Glaubenssätze, die noch aus vorangegangenen bindungsfern aufgewachsenen Generationen stammen und sich leider immer noch wacker halten.
Dazu werde ich sicher auch noch einen Artikel schreiben, bzw. es als Thema in meinem demnächst erscheinenden Podcast erzählen.
Die Angst nicht gut genug zu sein
Euer Kind lehnt euch nie, nie, never ever ab!
Viele glauben schon beim Baby, dass dieses, z.B. wenn es sich überstreckt, nicht auf dem Arm sein möchte und die Eltern „nicht gut genug sind“ und die Nähe „nicht so gerne mag“.
Das stimmt nicht!! Jedes Kind liebt seine Eltern und ist, vor allem am Anfang, komplett von ihnen abhängig. Warum sollte das Kind seinen Versorger ablehnen? Das wäre ganz schön blöd.
Daraus kann jedoch später ein Vermeiden von Körperkontakt entstehen, weil das Kind auf dem Arm (was eigentlich der beste und sicherste Platz der Welt sein sollte) keinen Halt erfährt. So wird die Nähe immer wieder als negativ abgespeichert und der „sichere Hafen“ bei Mama und Papa verliert an Wirkung. (Als kleine Entlastung: dieses kann jederzeit wieder positiv verändert werden!)
Auch weinende (Klein-)kinder sind keine Mimosen, sondern haben eine Not und es gilt herauszufinden, warum das Kind immer wieder soviel weint.
Manchmal ist es einfach zu viel, was so den ganzen Tag von dem kleinen Menschenkind abverlangt wird. Dazu passend mein Lieblingslied von Gisbert zu Knyphausen: Immer muss ich alles sollen
Mitleiden?
Es geht dabei nicht darum, das Kind stundenlang zu betüdeln und selbst im Mitleid zu versinken, sondern dessen Gefühle zu spiegeln und Halt zu geben. So lernt es diese zu regulieren und es kann immer besser und schneller wieder fröhlich von Dannen hüpfen.
Dabei ist es natürlich immer wichtig, dass ihr gut für euch sorgt, um auch genug Kraft für die anstrengenden Momente zu haben.
Wenn ihr es nicht allein schafft, dann holt euch Unterstützung, damit wieder ein entspanntes Familienleben entstehen kann, die Regulationsmechanismen des Kindes wirken dürfen und so ein gesundes Aufwachsen möglich wird.
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Kerstin